- Glück, Gutes und Nützliches
- Glück, Gutes und NützlichesDer moderne Begriff des Glücks unterscheidet sich von dem älteren, wie er weitgehend in der Antike und im christlichen Mittelalter galt, nicht zuletzt dadurch, dass er vom Begriff der Wahrheit abgekoppelt ist. Für die empiristische und materialistische Aufklärung des 18. Jahrhunderts wurde es sinnlos, nach dem »wahren Glück« zu fragen. Glück galt jetzt als relativ, bezogen auf die je unterschiedlichen Vorstellungen darüber, was die einzelnen unter bestimmten Umständen und Hinsichten als lustvoll ansehen. Je eindeutiger der Glücksbegriff auf subjektive Empfindungen reduziert wird, desto mehr erscheint er auch von der Beziehung zur Moral abgekoppelt; diese Konsequenz wurde freilich in solcher Radikalität nur von wenigen materialistischen Denkern des 18. Jahrhunderts gezogen. Überwiegend versuchte man noch, auf irgendeine Weise die traditionelle Vorstellung einer vorgängigen Harmonie von Glück und Tugend auch unter den Bedingungen des modernen Individualismus zu bewahren.Eine solche Möglichkeit, die moralischen Anforderungen der Gesellschaft nicht bloß als Einschränkung und Unterdrückung der individuellen Begierden zu sehen, bestand darin, neben egoistischen Strebungen auch ursprüngliche soziale Neigungen im Individuum zu lokalisieren. In diesem Sinne entwickelten Philosophen der britischen Aufklärung seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, namentlich Shaftesbury, Francis Hutcheson, David Hume und Adam Smith, eine Ethik des »Moral sense«, des moralischen Gefühls. Knüpften sie damit einerseits an traditionelle Harmoniekonzepte von Moral und menschlicher Natur an, so waren sie andererseits doch auch entschiedene Neuerer - und wurden als »Freidenker« angefeindet -, insofern sie mit der Annahme eines natürlichen Moralsinns die Auffassung außer Kraft setzten, der Maßstab des Moralischen sei allein durch die Religion verbürgt. Seither galt als leitender Bezug der Moral nicht mehr Gott, sondern das Wohl der Gesellschaft.Hutcheson zufolge gibt es neben der Wahrnehmung des »natürlichen« Guten, die dem Lust- und Vorteilsstreben folgt, eine ebenso elementare Wahrnehmung des moralisch Guten. Entsprechend nahm er zwei Grundmotive des Handelns an: Selbstinteresse und soziales Wohlwollen. Er entwarf eine gleichsam mathematische Berechnungsformel, durch die er den moralischen Wert einer Handlung in Abhängigkeit von der Quantität des Wohlwollens und verschiedenen anderen Parametern zu bestimmen suchte. In diesem Zusammenhang formulierte er bereits 1725 auch den auf den späteren Utilitarismus vorausweisenden Satz: »Diejenige Handlung ist die beste, die das größte Glück der größten Zahl zeitigt, die schlechteste ist die, welche in gleicher Weise Unglück verursacht.«Ähnlich bezogen auch französische Aufklärer wie Claude Adrien Helvétius und Paul Thiry d'Holbach die moralische Bewertung auf das Wohl der Gesellschaft. Im Unterschied zu den Theoretikern des Moralsinns der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts betonten sie nun aber immer stärker die unmittelbare Vereinbarkeit des als fundamental angesehenen egoistischen Luststrebens mit der gesellschaftlichen Moral. Schon Bernard Mandeville hatte mit der provokanten These seiner »Bienenfabel« (1714), dass gerade die privaten Laster Quelle des gesellschaftlichen Wohls seien, Shaftesbury als idealistischen Träumer entlarven wollen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam auch Helvétius zu der Überzeugung, dass gerade »die Liebe zur Macht. .. im Menschen die günstigste Vorbedingung für die Tugend« sei, weil diese gesellschaftlich durch Ansehen und Reichtum belohnt werde. Damit begründete Helvétius das Gemeinwohl weniger als Resultat der guten Handlungen einzelner, als dass er vielmehr diese aus der Perspektive des allgemeinen Nutzens bestimmte. Wenn Erziehung und Gesetzgebung, so Helvétius, sich das natürliche Machtstreben voraussehend zu Nutze machen, dann haben die Völker das entscheidende Werkzeug für ihr Glück in Händen.Von Helvétius übernahm Jeremy Bentham als Maßstab des moralisch Guten (vor allem im Bereich des sozialen und politischen Handelns) das Nützlichkeitsprinzip, »das schlechthin jede Handlung in dem Maß billigt, wie ihr die Tendenz innezuwohnen scheint, das Glück der Gruppe, deren Interessen infrage stehen, zu vermehren oder zu vermindern«. Benthams Utilitarismus ging davon aus, dass sich moralische Werte nicht unabhängig von Lust, Nutzen, Wohl und Glück begründen lassen. Dabei bezog er den Nutzen nicht auf den einzelnen Handelnden, sondern auf alle von einer Handlung betroffenen menschlichen (oder auch tierischen) Wesen. Bentham griff die Idee eines hedonistisch-moralischen Kalküls auf, verzichtete aber im Unterschied zur älteren Theorie des Moralsinns konsequent darauf, die Motive des Handelns, über die sich in der Regel nur allzu schwer etwas Sicheres ausmachen lässt, in die Bewertung der Moralität mit einzubeziehen. Das moralische Gewissen war für ihn nichts anderes als die verinnerlichte öffentliche Meinung. Im Nützlichkeitsprinzip sah er ein verlässliches und eindeutiges Kriterium der moralischen Bewertung, aufgrund dessen Ethik, Gesetzgebung und Politik zu rational kalkulierenden und empirisch verifizierbaren Wissenschaften werden sollten. Allerdings geriet damit die utilitaristische Ethik in ein eigentümliches Dilemma. Der Vorteil ihres relativ verlässlichen und überprüfbaren Kriteriums der Nutzenmaximierung wurde nämlich von dem Nachteil beeinträchtigt, dass die zuverlässige Abschätzung aller möglichen Folgewirkungen einer Handlung in vielen Fällen kaum möglich ist. So ist die Möglichkeit eines moralischen Fehlurteils hier keineswegs geringer als bei der Befolgung von äußeren Geboten oder einer inneren Stimme des Gewissens. Auch sind die Handlungsresultate, von denen der moralische Wert abhängen sollte, insbesondere im Bereich von Gesellschaft und Politik, meist nicht einfache, unbezweifelbare Fakten, sondern in ihrer Interpretation und Bewertung von vielfältigen Interessen und Perspektiven abhängig.Um solcher Schwierigkeiten Herr zu werden, entwickelte Bentham, wie ansatzweise schon vor ihm verschiedene Theoretiker des Moralsinns, einen Nutzen- oder Glückskalkül, der die jeweiligen Umstände - wie etwa Intensität, Dauer, Gewissheit oder Ungewissheit, Nähe oder Ferne, Folgenträchtigkeit, Reinheitsgrad - des je besonderen Nutzeneffekts mit berücksichtigte und eine nutzenmaximale Entscheidung ermöglichen sollte. Als beschreibende und erklärende Theorie entsprach Benthams Utilitarismus der Situation des ökonomisch handelnden Subjekts im Konkurrenzkapitalismus, wobei die einzelnen Entscheidungen durch den Erfolg oder Misserfolg am Markt bewertet und sanktioniert werden. Demnach entstehen und gelten moralische Werte und Normen, weil sie sich der Gesellschaft durch ihren Nutzen empfehlen. Als normative Theorie, die die Moralität von Handlungen und Normen am Nützlichkeitsprinzip bemisst, entsprach er dem Bestreben, vor dem Hintergrund der spätfeudalen Gesellschaftsstrukturen Englands in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts demokratische und liberale Prinzipien durchzusetzen. Zu diesem Zweck musste der Utilitarismus sein allzu enges Modell ökonomischer Rationalität überschreiten.Ebendies klagte eine Generation später der Victorianer John Stuart Mill, der zweite Hauptvertreter des Utilitarismus, ein. Er warf dem Aufklärer Bentham eine Verabsolutierung des »Homo oeconomicus« und damit eine allzu enge Konzeption des Menschen vor. Die Lust stellte zwar auch für ihn die Basis der Nützlichkeit dar, aber er betonte zugleich die höchst unterschiedlichen Inhalte dieser Empfindung und ihre qualitativen Differenzen (von sinnlicher Lust bis zu ästhetischen, intellektuellen und moralischen Freuden). Es ging ihm darum, die dissoziativen Folgen der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft mithilfe ihres eigenen Antriebs, des Vorteilsstrebens, moralisch auszugleichen. Hedonistischer Egoismus und moralischer Universalismus sollten versöhnt werden. »Es ist besser«, schrieb er, »ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufrieden gestelltes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr.« Bei dieser Qualifikation berief er sich nicht auf eine Hierarchie objektiver Werte, sondern auf die reifere Urteilsfähigkeit im Falle ausgreifender Lebenserfahrung. Dennoch stand eine solche Bewertung der verschiedenen Nutzenempfindungen in unauflösbarer Spannung zu seinem Liberalismus, mit dem er das einzelne Individuum bezüglich seiner Strebungen ausdrücklich von jeder Verantwortung gegenüber der Gesellschaft freisprach, sofern es nicht die Interessen anderer verletzt. Darüber hinaus ließ er ungeklärt, wie die unterschiedlichen Qualitäten »höherer« und »niedrigerer« Freuden miteinander verrechnet werden sollten. Es bleibt jedoch das Verdienst des klassischen Utilitarismus, gezeigt zu haben, dass keine plausible Moraltheorie daran vorbeikommt, an den vielfältigen Wünschen und Interessen der Menschen anzuknüpfen und die objektiven Folgen des Handelns mit in die moralische Bewertung einzubeziehen.Prof. Dr. Gunzelin Schmid NoerrGeschichte der Philosophie, herausgegeben von Wolfgang Röd. Band 10: Die Philosophie der Neuzeit, Teil 4. Positivismus, Sozialismus und Spiritualismus im 19. Jahrhundert. München 1984—89.
Universal-Lexikon. 2012.